Die Zeit. Hält. An.

Diese Woche, im Pflegeheim. Herrn V. kenne ich jetzt seit etwa drei Monaten. Er ist demenziell beeinträchtigt und spricht nicht. Meist sitzt er mit gesenktem Kopf am Tisch, halb im Schlaf dämmert er in seiner eigenen Gedankenwelt vor sich hin und scheint das Geschehen um sich herum nicht wahrzunehmen.

Heute sind wir schon einige Zeit im Aufenthaltsraum, die Stimmung ist gut, sogar ausgelassen. Zeit, ein paar ruhigere Töne anzuschlagen. Ich hocke mich zu Herrn V. hinunter, PeterSilie und ich stimmen einen alten Schlager an.

Blitzartig, mit den ersten Tönen, wendet sich V. mir zu. Und es ist, als habe man ein Licht angeknipst: Er lächelt mich an, voller Freude, die Tränen laufen ihm übers Gesicht, doch er hört nicht auf zu strahlen. So sieht er mich an, zwei lange Strophen lang, und ich bin wie gebannt. Ich lege mein ganzes Herz in das Lied hinein, ich kann gar nicht anders, ich möchte diesen Augenblick halten, halten, halten, denn er ist unbeschreiblich schön.

Das Lied ist vorbei, Herr V. senkt seinen Kopf und geht wieder in seine Welt zurück. Und ich bleibe zurück – sprachlos und beschenkt.


Tombeau für Frau G.

Besuch im Pflegeheim. Viele Zimmer, Flure und Bereiche haben wir heute schon durchstreift, nun kommt das 2. OG dran. In der Mitte des Wohnbereichs gibt es eine gemütliche Sitzecke mit Tisch und diversen Sesseln, die von den Bewohnern gern genutzt wird. Die Stimmung steigt hier gern schon einmal bis zur ausgelassenen Partylaune. Als wir heute ankommen, ist es dagegen sehr ruhig, nur wenige Bewohner sind um den Tisch versammelt. 


Unter ihnen ist Frau G., die wir schon lange kennen. Mit ihrer warmherzigen Art und ihrem durchschlagenden Humor ist sie ein regelrechter emotionaler Magnet des Wohnbereichs. Durch die Demenz ist sie in ihrem zeitlichen und örtlichen Orientierungsvermögen stark eingeschränkt, was sie aber nicht aus ihrem seelischen Gleichgewicht zu bringen scheint: Wenn auf dem Wohnbereich etwas los ist, da ist sie mittendrin. 

Heute jedoch ist alles anders, Frau G. ist ungewohnt still. In ihrem Stuhl hängt sie eher, als dass sie sitzt, der Kopf ist tief geneigt, das Kinn liegt auf der Brust. Nicht einmal ihre Brille hat sie heute auf der Nase. Die Betreuerin kommentiert meinen besorgten Blick: »Ja, Frau G. geht es heute schlecht.« Nach einer Weile spielt PeterSilie mit seiner Ukulele einen Walzer an, ich stimme mit dem Akkordeon ein. Und schließlich bricht sich Frau G.s Temperament doch Bahn: Der Kopf ist immer noch tief gesenkt, doch sie dirigiert mit wachsender Leidenschaft, so energisch, dass der mit Saft gefüllte Becher in ihrer Rechten mehrfach überzuschwappen droht. Es geht ihr sichtbar schlecht, und doch ist da in ihr der Wille, diese nicht zu unterdrückende Lust auf das gemeinsame Miteinander. Ich bin fasziniert – und berührt.

Als der Walzer vorbei ist, fragt PeterSilie vom anderen Ende des Tisches, wo denn Frau G. sei, und die Betreuerin entgegnet: »Da ist sie doch!« PeterSilie, vollkommen überrascht, nun direkt zu Frau G.: »Ich habe Dich ohne Brille ja gar nicht erkannt!« Darauf Frau G., wie aus der Pistole geschossen: »Wieso, kommt man hier nur mit Brille rein?« Und dann wirft sie den eben noch so tief gesenkten Kopf in den Nacken und lacht aus tiefstem Herzensgrund über ihren eigenen spontanen Scherz. Alle Schwere ist für einen Moment vergessen.

Es sollte unsere letzte Begegnung mit Frau G. sein: Bei unserem nächsten Besuch zwei Wochen später war sie nicht mehr da. Doch sie ist unvergessen.



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